Rückkehr nach Schlesien

 

Jagnitzer

 

Meine beiden Gastgeber gehen mit mir durch die Jagnitzer Straßen. Männer in Arbeitskleidung und Frauen in Kittelschürzen kommen und grüßen,  polnisch meist.

 

"Die Menschen hier wagen noch immer nicht, deutsch auch auf den Straßen zu sprechen," nimmt Robert das Gespräch wieder auf.

 

"Dazu kommt, daß  die mittlere Generation und die Kinder das Deutsche nur unvollkommen oder  auch gar nicht beherrschen. Diesen Sieg können die Polen für sich verbuchen, und sie ziehen daraus  die Berechtigung, sich hier auch weiterhin als Sieger zu gebärden. Sehen Sie sich um. Können Sie eine einzige deutsche Aufschrift entdecken? Ein deutsches Ortsschild oder einen deutschen Straßennamen? Bleibt alles verboten, denn wir sind ja hier nicht in Deutschland, sondern in  Polen!"

 

Die Menschen  haben verarbeitete, freundliche Gesichter. In nur wenigen dieser Gesichter  steht  die Bitterkeit, die Unfähigkeit, eine höhnische Übermacht ohne innere Auflehnung zu ertragen.

 

"Einer Fabrik wegen haben wir hier in Jagnitz  auch noch eine Siedlung mit polnischen Arbeitern bekommen. Die ersten Monate waren furchtbar. Abend für Abend zogen ganze Banden los, um  alles, was  beweglich war und lohnend erschien,  abzutransportieren. Polizei? Was macht in solchen Fällen eine polnische Polizei....?? Nachdem wir unsere eigenen Vorkehrungen getroffen hatten, wurde das dann wieder besser. Jetzt kommen russische Banden, um ihrerseits den Polen die Sachen wegzutragen. Uns natürlich auch. Und Polizei ist wieder nicht zur Stelle. Der Respekt vor den Russen sitzt dem Polen noch zu tief!

 

Als die Wende kam, hatten die Polen in der Siedlung Angst, wir Schlesier könnten nun den Spieß herumdrehen und für alles, was uns angetan wurde, Rache nehmen. Rache aber ist etwas, was uns Schlesiern nicht liegt."

 

Aus einem der weißgetünchten Häuser kommt ein älterer Mann und winkt uns: "Wen habt Ihr denn da?" Er spricht deutsch. Meine Begleiter stellen mich als den Besuch aus Deutschland vor, und Stephan, so heißt der Mann, drückt mir so fest die Hand, als hätten wir schon lange zusammen ein tiefes Geheimnis.

 

"Wollen Sie unsere neuen Fenster sehen? Und unser neues Badezimmer?"

 

Ich will. Neue Fenster, ein rosa gekacheltes Badezimmer. Auch für meine an Weststandard gewohnten Augen fehlt es an nichts.

 

"Unser Sohn ist Arzt in Düsseldorf", sagt Stephan. "Er hilft uns, wo er kann. Wir haben ja fast alle jemanden in Deutschland. Sonst sähe unser Leben hier noch  trostloser aus. Auf unsere Verwandten und Freunde im Westen können wir uns verlassen. Sonst aber auf nichts."

 

Stephan lächelt, ein schüchternes,  zögerndes Lächeln in seinem abgearbeiteten Gesicht.

 

"Wir wissen es hier ja alle," sagt er, "wenn wir es auch nicht aussprechen mögen: Es ist noch immer Krieg gegen Deutschland. Noch immer wird der unausrottbare Haß der Polen gegen uns Deutsche von Deutschlands Feinden geschürt. Was die Polen auch tun, was sie auch tun werden,  wie einst wird ihnen von unseren Widersachern, Bonn eingeschlossen, applaudiert. So leben wir hier in Schlesien eigentlich nur von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Ob wir es uns klar machen oder nicht: Hinter jedem von uns steht die Angst, es könnte wieder so kommen wie damals.

 

Die neuerdings überall auftauchenden Aufschriften: 'Deutsche raus aus Polen,' oder besser noch: 'Es ist die Ehre eines Polen, einen Schlesier zu töten'- sind das nicht schon wieder Aufrufe zur Schlacht gegen uns Wehrlose?"

 

"Stephan", sagt Robert, " die Angst ist da. Wir kennen sie ja alle. Aber auch die Angst ist unser  Gegner, mit dem wir fertig werden müssen.  Wir Schlesier leben doch davon, daß wir etwas in uns haben, das größer, weiter, stärker ist als alle Angst. Es ist unser Stolz, daß wir auf einem Grund stehen, der unzerstörbar ist."

 

Stephan nickt und lächelt. "Ich weiß schon, Robert. Es ist gut, daß es dich, daß  euch gibt."

"Wenn die Polen wirklich wieder einmal das große Morden beginnen, dann werden Robert und ich die ersten sein." Erikas blaue Augen leuchten bei diesem Satz fast noch intensiver als sonst.

Da ist es wieder,  das Grauen, das über Schlesien liegt, das lähmende Grauen in seiner erschreckensten Gestalt.

 

Wir gehen weiter. Frauen auf Fahrrädern kommen, beschäftigt allein mit dem Nächstliegenden. Da das Geld fehlt, da es kaum Einkaufsmöglichkeiten gibt in Jagnitz, werden  die Erzeugnisse der Gartenwirtschaften ausgetauscht: Obst, Gemüse,  Eier. Manche kommen auch mit Butter, mit Käse, mit Kohlensäcken.

 

"Mehr brauchen wir nicht in Oberschlesien", sagt Robert, "aber es genihgt."

 

 Er spricht das 'ü' aus wie ein langes 'i', und der ganze Zauber des Deutschen Ostens, die bescheidene, geradlinige, beharrliche Geduld seiner Menschen liegt in der Art verborgen, wie Robert dieses 'ü' ausspricht: 'Es genihgt. No.'

 

"Frauen sind bei uns meistens berufstätig", sagt Erika. "Dazu müssen sie das Hauswesen besorgen, das heißt: säen, jäten, ernten, kochen, einkochen, Kohlen organisieren, Handwerker suchen, Kranke pflegen, meist ohne die richtigen Medikamente,  - da bleibt nicht mehr allzuviel Zeit zum Grübeln. Und das ist gut so." Erika lacht, ihr leichtes, freundliches Lachen.

 

"Manche Frauen bei uns fühlen sich so gut, daß sie sich sogar den Luxus eines Nachbarschaftsstreites erlauben," ergänzt Robert.  "Seit der Wende zankt sich Erika mit der Nachbarin rechts wegen der zu dicht am Zaune stehenden Apfelbäume."

 

Erika aber antwortet: "Brauchen wir Frauen nicht auch ab und zu etwas Freude?"

 

Als wir weiter gehen, berühren mich immer wieder  die Blätter der Jagnitzer Lindenbäume wie freundliche Hände.

 

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