Rückkehr nach Schlesien

 

                                                              Menschen

 

Auch in Oppeln habe ich einen Auftrag: Die Eltern einer Freundin hatten im alten Oppeln ein Fuhrunternehmen mit Pferden. Ich solle doch einmal nachschauen, was nun daraus geworden sei.

Nach vielem Nachfragen finde ich das gesuchte ehemalige Fuhrgeschäft in einer Seitengasse. Ein geräumiger Innenhof wird von einem Wohnhaus und von drei langen Stallgebäuden umgrenzt, alles in dem hier üblichen Zustand: kaum mehr Putz an den Wänden, die meisten Fensterscheiben zerbrochen, die Türen schief in ihren Angeln.  Auf dem Hofe  laufen unruhige, magere Hühner umher. Wäscheleinen sind  behängt mit Arbeitshosen und Unterhemden. Kinder greinen. Und alles ist durchtränkt von den scharfen Ausdünstungen überall verstreuter Abfallhaufen.

 

In einer der schrägen Türen steht eine alte Frau in einem buntbedruckten Baumwollkleid. Ihr Rücken ist gebeugt, die Hände durch die Gicht verkrümmt, der Mund eingefallen. Nur ihre dunklen Augen scheinen vom Alter noch nicht gezeichnet zu sein.

 

"Darf ich einmal herein kommen? Hier haben einmal Bekannte von uns gewohnt, und sie wollen so gerne ein Foto von ihrer alten Wohnung haben..."

 

Die alte Frau versteht kaum Deutsch, errät aber meine zusätzlich durch Gebärdensprache ausgedrückten Wünsche.

"Bitte.." Sie zieht mich förmlich zur Tür herein und dann die Treppe hinauf.  In einen Raum, Küche, Schlaf - und Wohnzimmer in einem, nur durch einen Stoffvorhang zur Treppe hin zu verschließen, sitzt eine weitere Greisin, die offenbar nicht mehr in der Lage ist, ihren Stuhl zu verlassen.

 

"Bitte...", lädt auch sie mich zum Umschauen und zum Fotografieren ein mit uralten, zum Sehen kaum noch tauglichen Augen, auf deren Grunde eine Spur von Güte wohnt.

 

Ich schaue mich um, fotografiere und setze mich schließlich  auf den einzigen noch freien Stuhl, um den beiden zuzuhören.  Es sind Erzählungen in einer fremden Sprache, aber erzählt in dem festen Glauben,   verstanden zu werden. Es sind Berichte vom Abschied, vom Hunger, vom Tod, Berichte von Krankheit und von Schmerzen, die nicht mehr zu heilen sind in dieser Welt. Immer wieder weinen die beiden, aber es sind keine Tränen der Bitternis. Es sind Tränen der Unterwerfung unter eine Allmacht, nach deren Absichten man nicht fragt, deren unergründliche Ratschlüsse man nicht befugt ist zu überdenken.

 

Ich nicke, ich höre zu und drücke den beiden abwechselnd die alten Hände. Ohne es zu wollen, haben die Polinnen mich dazu gebracht, auch die herben Nöte der Fremden  mitzufühlen.

 

Beim Abschied küssen sie mich auf beide Wangen und, solange es möglich ist, winkt  mir die noch Gehfähige nach, wobei sie mühsam den verschlissenen Stoffvorhang in der Türöffnung beiseite halten muß. Meinen Geldschein haben die beiden mit Entschiedenheit abgelehnt. Ich habe ihn schließlich einfach auf dem Tisch liegen lassen.

 

Wieder auf dem Hofe, blicke ich mich weiter um. Aus einem Fenster hoch oben schaut eine andere alte Frau zu mir hinunter. Sie schaut  mit einem BLick, wie ich ihn schon einmal in Grünberg gesehen habe. Ich nicke ihr mehrmals zu, und sie bedeutet  mir,  hinauf zu kommen. Der Raum, in dem sie wohnt, ist in der gleichen Weise ausgestattet wie das Zimmer der beiden Polinnen. Die alte Frau heißt mich setzen. Es ist eine Deutsche aus Oppeln, spricht ihre Muttersprache aber nur noch mit sichtlicher Mühe. Sie sei bei der Vertreibung aller Deutschen aus Schlesien zurückgeblieben. Ihren Mann habe sie schon während des Krieges verloren. Ihre beiden Kinder, sechs und acht Jahre alt, starben an Hunger und Kälte zu Beginn der erzwungenen Flucht. Daraufhin hat die gänzlich Vereinsamte  nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich  weiterhin den Flüchtlingszügen anzuschließen. Monatelang hielt sie sich  bei einem alten gemischtnationalen Förster in einer Waldhütte verborgen. Schließlich  trieb der Hunger sie zurück zu den inzwischen eingeströmten neuen Landesbewohnern, welche nun entdeckt hatten, daß es geschickter sei, Deutsche für sich arbeiten zu lassen als sie  zu vertreiben. Jahrelang mußte die zurückgebliebene Deutsche  unter polnischer Aufsicht als Magd   auf einem ehemals deutschen Bauernhof arbeiten, später dann in einer oberschlesischen Fabrik. Jetzt lebt sie wieder in Oppeln und hat  eine Rente. Diese Rente aber ist so klein, daß sie schon seit längerer Zeit davon die Miete  nicht mehr bezahlen kann. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht.

 

Die alte Frau hat große Schwierigkeiten, sich zu bewegen, offensichtlich auch Schmerzen. Ihr ehemals  schönes Gesicht ist abgezehrt von Elend und von Krankheit. In ihren merkwürdig hellen Augen ist die Trauer in eine Art Versteinerung übergegangen. Ich könnte auch sagen, in ihren Augen liegt die Erstarrung, mit welcher die neuen Bewohner Schlesiens das Land überzogen haben.

"Es war kein Recht mehr für Deutsche unter den Polen", spricht sie weiter. "Es gibt hier in Oppeln einen großen Hof, unter dessen Erde meine tot geprügelten Landsleute liegen. Niemand durfte darüber sprechen. Wir durften überhaupt kein einziges deutsches Wort mehr sagen. Für uns gab es nur Arbeit und  Angst.

Ich habe gehört, daß man nun nach Deutschland gehen kann, wenn man will. Ich kann aber nicht nach Deutschland gehen. Ich weiß nicht, wie, und ich weiß nicht, wohin. Dazu  habe ich immer Schmerzen. Ich müßte Medizin nehmen, aber ich habe für Medizin kein Geld."

 

Die alte Frau hat keine Tränen. Ich wage auch nicht, ihre Hand zu ergreifen, geschweige denn, den eigentlichen Anlaß meines Hierseins zu erwähnen, das Sich- einmal- umschauen - und- ein bißchen- fotografieren- wollen. Lange sitzen wir stumm, stumm vor einem deutschen Schicksal, für welches es so, wie bei den Polinnen, keine Heilung mehr gibt, nirgendwo.

 

"Lothar, mein Mann ist bei mir", sagt die alte Frau, "mein Mann und die Kinder. Aber bevor ich zu ihnen gehe, muß ich noch sehen, ob Jehova nicht doch noch kommt, Jehova, der uns in der Bibel versprochen hat, das Böse am Ende der Zeiten zu zerschlagen, das Unrecht, die Gemeinheit, das " Tier". Jehova hat gesagt, daß er mit seinen Engeln kommen wird, alle ausgerüstet mit feurigen Schwertern und mit Lanzen. Jehova hat gesagt, daß er alles vernichten wird, was herausgequollen ist aus dem Rachen des Satans. Des Satans in der Gestalt der Polen. Jehova wird kommen...".

 

Ich antworte nicht. Vielleicht bin ich es jetzt, die Tränen hat.

 

Sie ist doch einmal  jung  gewesen, diese alte deutsche Frau aus Oppeln, ein schönes Mädchen, ein Mädchen voller Hoffnung für das Leben, welches vor ihr lag. Und sie hat als Deutsche in einer ganz normalen deutschen Stadt gewohnt, auf einem Boden, der so untrennbar zu ihr gehörte wie ihre Hand. Sie hat gelebt, wie ich jetzt lebe, ohne Furcht vor einem unvorstellbar übermächtigen Widersinn. Oder soll ich lieber sagen, sie hat gelebt, wie ich gelebt habe, bevor ich von Schlesien etwas wußte?

 

Die alte Frau scheint ihre Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Ihre Augen sind in eine mir unzugängliche Ferne gerichtet. Ihre Augen sind hell, hart und leer.

Als ich mich endlich zum Gehen wende, ist es dunkel.

"Es liegt etwas für Sie auf dem Tisch," sage ich, "für Medikamente und für die Miete. Ich werde Ihnen auch aus Deutschland etwas schicken, soweit ich es kann..... Ich heiße Marianne....Auf Wiedersehen...".

 

Hat die Frau es gehört?

"Auf Wiedersehen", habe ich gesagt. Auf Wiedersehen. Wo?

Dort, wo Lothar und die Kinder sind?

 

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